Sebastian Nerz, der Vorsitzende der Piratenpartei Baden-Württemberg, nimmt Stellung zur Bürgerschaftswahl in Hamburg:
Eine Wahlbeteiligung von 57%, die absolute Mehrheit für die SPD und 2,1% für die Piraten. Das sind auf den ersten Blick die Ergebnisse der Bürgerschaftswahl in Hamburg. Ich will ehrlich sein: Auf den ersten Blick war das Wahlergebnis für mich etwas enttäuschend. Eigentlich hoffte ich auf 3% + x für die Piraten. Aber vermutlich war das zu viel erwartet. Die Umstände waren in Hamburg nicht gut für uns:

  1. Die Wahl war sehr kurzfristig – nach der Auflösung der CDU/GAL-Regierung 2010 blieb der Piratenpartei in Hamburg nur sehr wenig Zeit um sich auf die Wahl vorzubereiten. Für eine kleine Partei ist das schwierig: Unterschriften mussten für die Wahlzulassung gesammelt werden, ein Programm geschrieben und Kandidaten gesucht werden … und danach noch ein Wahlkampf geführt werden, für den man eigentlich kein Geld hat (im Vergleich zur Partei DIE LINKE beispielsweise um etwa den Faktor 20 weniger).
  2. In der Kürze der Zeit ist es schwierig, sich als ernsthafte Alternative darzustellen. In Hamburg herrschte eine extreme Wechselstimmung. Die Menschen hatten berechtigterweise die Schnauze voll von Schwarz/Grün, sie wollten den Politikwechsel. Die Erfahrungen u.A. aus NRW zeigen aber, dass wechselbegierige Wähler keine Experimente wagen. Sie wählen die “große” Alternative und nicht die kleinen Parteien. Das ist anders als beispielsweise in Baden-Württemberg – die Wechselstimmung hier ist keine neue Entwicklung.
  3. Das Wahlrecht in Hamburg favorisiert bekannte Personen. Ich würde schätzen, dass die Wähler kleiner Parteien dazu neigen, dass sie noch eine oder mehrere Stimme einer möglichen großen Koalitionspartei geben. Die Wähler der SPD werden dies eher nicht getan haben, wenn man sich das Wahlergebnis ansieht… Zudem sind die Piraten basisdemokratisch und inhaltszentriert aufgestellt – wir haben bewusst keine “Großköpfe”, die man dann aus den Listen herauspicken kann.

Aber auf den zweiten Blick, ist das Ergebnis eigentlich sehr gut:

  1. Bei der Bundestagswahl 2009 hatten die Piraten einen Hype. Wir waren in allen Medien, unsere Themen waren gerade *der* Renner schlechthin … die 2% wurden uns geschenkt. Danach mussten wir uns alles hart verdienen. Wir stürzten sehr unsanft in die politische Realität und den Bedeutungsverlust. Wir mussten Strukturen aufbauen und mit dem schnellen Wachstum fertig werden – und wir mussten und müssen mit Spielern konkurrieren, die Jahrzehnte lang Zeit hatten ihre Netzwerke aufzubauen und die ein vielfaches an Geld investieren können. In Hamburg haben sich die Piraten das Wahlergebnis trotz widriger Umstände hart erkämpft. Ihnen wurde nichts geschenkt, jeder Wähler musste überzeugt werden … und sie haben über 70.000 Stimmen bekommen.
  2. Die Piraten sind in Hamburg wieder die stärkste außerparlamentarische Kraft geworden. Sie haben deutlich mehr als doppelt so viele Stimmen wie die NPD und mehr als NPD + Freie Wähler + ödp zusammen. Das zeigt, dass wir weiterhin die echte Alternative zu den Parlamentsparteien sind. Wer einen politischen Wandel will, wer eine neue Partei will – der muss zu den Piraten kommen. Das hat sich in Hamburg bestätigt. Das wir uns etablieren ist langfristig wichtig für Deutschland: Bei einer Wahlbeteiligung von nur 57% sieht fast die Hälfte der Menschen keinen Sinn in einer Wahl. Das muss sich wieder ändern. Eine Demokratie, die nicht von der Mehrheit ihrer Menschen akzeptiert wird, hat ein Problem. Ich hoffe, dass wir langfristig dazu beitragen können dieses Problem anzugehen.
  3. Bei den Erstwählern haben wir laut Angaben der ARD etwa 6% der Stimmen erhalten … langfristig betrachtet werden wir damit in die Parlamente kommen, denn mit jeder Wahl kommen neue Piratenwähler dazu.
  4. Zudem ist es sehr wahrscheinlich, dass die Piraten das Unmögliche geschafft haben – und sie einen (oder mehrere) Sitz(e) in den Bezirksvertreterversammlungen erbeutet haben. Im Bezirk Hamburg-Nord haben die Piraten 3,3% auf der Landesliste … wenn das Ergebnis für die Bezirksvertreterversammlung auch so aussieht, würde es für die 3% Hürde reichen!
  5. Es ist außerdem möglich, dass der ein oder andere Wahlkreiskandidat der Piraten, z.B. unser Spitzenkandidat (Platz 1 der Landesliste) Claudius Holler im Wahlkreis Altona ein gutes Ergebnis und vielleicht sogar den Einzug in die Bürgerschaft geschafft hat – durch das komplizierte Auszählen der Wahl wird es noch dauern, bis das feststeht (2008 hatte Bernhard Schillo nach dem gleichen Modus im Wahlkreis Altona Platz 6 unter den Kandidaten belegt und damit den Einzug in die Bürgerschaft nur um einen Platz verpasst).

Kurz gesagt: Die Piraten in Hamburg haben gezeigt, dass sie um Stimmen kämpfen können. Wir haben uns als bleibende politische Kraft etabliert. Die Parlamentsparteien müssen auch in Zukunft mit uns rechnen und dies werden sie auch bei den nächsten Landtagswahlen sehen!

Alles in Allem ist den Piraten in Hamburg ein echter Coup gelungen und ich bin ihnen dafür sehr dankbar!

Jetzt liegt es an den Piraten in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg auf dieses Ergebnis aufzubauen, es zu verbessern und zu zeigen, dass wir bereit sind weiter zu kämpfen. Und das werden wir schaffen.

Original-Beitrag erschienen bei der Piratenpartei Baden-Württemberg.

]]>