Insgesamt 1744 Vorschläge, eingebracht von 6768 registrierten Benutzern, das ist die Zwischenbilanz des Bürgerhaushalt Stuttgart. Unter den Vorschlägen befinden sich eine Vielzahl guter Ideen, die von Verwaltung und Gemeinderat in den nächsten Monaten geprüft und behandelt werden. Über den Beteiligungsgrad kann in Anbetracht der kurzen Vorbereitungszeit eine durchaus positive Bilanz gezogen werden. Jedoch trüben vor allem eine simple Manipulationsmöglichkeit und einige Schwächen der Online-Plattform das Gesamtbild des Verfahrens. Die Verantwortlichen müssen jetzt zeigen, dass sie die eingebrachten Ideen vorurteilsfrei behandeln.

Bewertungen nicht ausreichend vor Manipulation geschützt

Die von uns in den vergangenen Wochen angesprochene Möglichkeit zur Manipulation der Bewertungen hatte für einige Diskussionen gesorgt. Wir haben bislang bewusst auf eine Veröffentlichung der Details verzichtet, um nicht einer breiten Ausnutzung des Problems Tür und Tor zu öffnen.

Dabei handelt es sich um ein vergleichsweise triviales Problem: Bei der Erstellung eines Benutzers im Bürgerhaushalt fand keinerlei erkennbare Überprüfung der eingegebenen Daten statt. Es konnte sich also – theoretisch – jeder Mensch beliebig viele Accounts anlegen, und dementsprechend oft abstimmen. Es ist also höchst fragwürdig, die Bewertungen als verbindliche Grundlage zur Zusammenstellung der „TOP 100“-Vorschläge, die durch den Gemeinderat behandelt werden, heran zu ziehen.

Die Frage ist nicht, ob die Bewertungen manipuliert wurden, sondern nur in welchem Ausmaß. Wir raten dem Gemeinderat daher dringend davon ab, die Vorschläge rein anhand ihres Bewertungsergebnisses zu behandeln.

Die Stadt hat aus unserer Sicht keine praktikable Möglichkeit, die Daten derart von ungültigen Bewertungen zu bereinigen, dass das Ergebnis zufriedenstellend als Grundlage für eine Behandlung durch den Gemeinderat dienen könnte. Die bei der Anmeldung angegebenen Daten genügen keinesfalls für eine teil-automatisierte Bereinigung der Datensätze. Man müsste eine enorme Anzahl von Benutzerdaten händisch überprüfen.

Kurz gesagt ist es im Nachhinein einfach nicht praktikabel, die Konsistenz der Bewertungsergebnisse soweit sicherzustellen, dass der Gemeinderat diese guten Gewissens als Bewertungsgrundlage nutzen könnte.

Digitale Demokratie

Moderne Technologien in demokratischen Prozessen zu nutzen bringt ganz neue Möglichkeiten aber auch eine Menge von Problemen mit sich. Im Bewusstsein der etablierten Politik scheint das im Anbetracht der Manipulierbarkeit des Bürgerhaushalts noch nicht angekommen zu sein.

Für unsere Zulassung zur letzten Landtagswahl mussten wir etwa im Vorfeld Landesweit über 10.500 Unterstützungsunterschriften sammeln. Jedes Formular wurde durch die zuständigen Ämter einzeln auf Gültigkeit überprüft, viele wurden schon aufgrund der Unlesbarkeit einiger Angaben nicht anerkannt. Es wird also – und das ist auch gut so – bei demokratischen Prozessen in jedem Schritt darauf geachtet, Manipulationsmöglichkeiten zu verhindern.

Bei einer demokratischen Wahl etwa erhalten nur Wahlberechtigte einen Stimmzettel. Es wird mit größter Sorgfalt darauf geachtet, dass jeder auch nur die ihm zustehende Zahl von Stimmen abgeben kann. Die Auszählung erfolgt öffentlich, damit sich jeder davon überzeugen kann, dass auch korrekt gezählt wird. Eine erneute Auszählung ist jederzeit möglich. Jeder Schritt, abgesehen vom Ausfüllen des Stimmzettels, natürlich, wird von so vielen Menschen wie möglich begleitet. Der Einsatz digitaler Systeme, z.B. von Wahlmaschinen, kann einfach nicht das gleiche Maß an Manipulationssicherheit bieten.

War die Schwachstelle vermeidbar?

Beim Bürgerhaushalt wurde – aus welchen Gründen auch immer – schon auf die einfachsten Möglichkeiten zum Verhindern von Manipulationen verzichtet. Zuallererst hätte man in jedem Fall auch verbindlich das Geburtsdatum erfragen müssen. Ohne das Geburtsdatum ist eine zumindest annähernd zufriedenstellende Verifikation der Daten nicht denkbar. Abgesehen davon, gab es eine Reihe von Möglichkeiten, die man auch mit vergleichsweise wenig Aufwand hätte umsetzen können.

  • Datenabfrage beim Melderegister: Dies hätte wohl zusätzliche Beschlüsse des Gemeinderats erfordert oder zumindest ein Betrieb des Dienstes durch die Stadt. Die Plattform könnte über ein API (Programmierschnittstelle) bei der Stadt anfragen, ob die angegebenen Daten lt. Melderegister korrekt sind.
  • Authentifizierung über Code-Brief: Die Stadt verschickt an jeden Bürger, der sich beteiligen darf, einen Brief, der einen Anmeldecode enthält. Dieses Verfahren ist sehr einfach und kostengünstig umsetzbar, und bietet zudem zusätzliche Möglichkeiten zur anonymen Nutzung der Plattform. Dem Brief kann zusätzlich ein Informationsflyer beigelegt werden, ist also auch als positive Werbemaßnahme für den Bürgerhaushalt zu bewerten.

Und hierbei handelt es sich lediglich um zwei der praktikabelsten Lösungsansätze. In jedem Fall wäre damit dem Benutzer bereits bei der Anmeldung klar gewesen, ob sein Account gültig ist, etwas, was bei einer nachträglichen Filterung nicht mehr möglich ist.

Beteiligungsgrad

Wenn man die kurze Vorbereitungszeit, das schwache Medienecho und die geringe Bewerbung des Bürgerhaushaltes berücksichtigt, kann man die Zahl der eingebrachten Vorschläge durchaus als Erfolg werten. Die Ideen betreffen nahezu alle Aspekte des öffentlichen Lebens und beschränken sich keineswegs nur auf Themen des städtischen Haushalts. Obwohl viele dieser Vorschläge wohl alleine aus formalen Gründen nicht in den „TOP 100“ gelistet werden, ist der Gemeinderat gut beraten, die vorgebrachten Themen nicht unter den Tisch fallen zu lassen.

Es ist deutlich zu erkennen, dass sich die Menschen eine permanente offene Möglichkeit zur Mitwirkung an politischer Willensbildung wünschen, die durch die vorhandenen Angebote der Stadt offensichtlich nicht abgedeckt wird. Der Gemeinderat muss jetzt die Zeichen der Zeit erkennen und an der Bereitstellung einer solchen permanenten Plattform zur Bürgerbeteiligung in Stuttgart arbeiten.

Siehe auch

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