Die Piratenpartei Baden-Württemberg hat am 10./11. Februar 2020 einen offenen Brief an Gemeinden, Städte, Landtagsfraktionen und die Landesregierung geschickt mit der dringlichen Bitte die Situation im ÖPNV schnell zu verbessern.
Der Brief im Wortlaut:
Sehr geehrte Gemeindevertreter*innen, sehr geehrte Bürgermeister*innen, sehr geehrte Landtagsabgeordnete, sehr geehrte Landesregierung, liebe Mitleser,
Pendler, Familien, Schülerinnen und Schüler und noch weitaus mehr Menschen benutzen tagtäglich den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) in Baden-Württemberg. Er stellt eine ökologische und günstige Möglichkeit dar, Mobilität zu gewährleisten. Genau diese Mobilität jedoch wird durch die aktuelle Situation im ÖPNV eher behindert als gefördert.
Beispielhaft möchten wir einige Situationen schildern. So fielen zwischen Stuttgart und Tübingen im Jahr 2019 knapp 2.000 Züge aus. [1] Gerade zu den Hauptverkehrszeiten eine immense Mehrbelastung für Pendler. Auf der Residenzbahn ergibt sich nach dem Betreiberwechsel eine katastrophale Situation, zeitweise fahren gerade einmal gut 18% der Bahnen nach Plan. [2]
Bauarbeiten an der Schnellfahrstrecke Stuttgart-Mannheim werden im Jahr 2020 eine weitere Reduktion und erhebliche Einschnitte für den Schienenverkehr mit sich bringen. [3] Bauarbeiten im Zusammenhang mit Stuttgart 21 sorgen bereits heute für Ärger mit den S-Bahnen im Großraum Stuttgart, eine mögliche Sperrung der Panoramastrecke würde die letzte Ausweichstrecke nehmen.
Der Betreiber Go-Ahead gibt zum Start zu, dass 10% der Züge entfallen. [4] Auf der Bodensee-Gürtelbahn beschweren sich Kunden über massive Ausfälle und Verspätungen. [5] Die Situation bei den Betreibern spitzt sich immer weiter zu, massig Überstunden und mangelndes Wagenmaterial setzen zu. [6] Eine Anfrage der Piratenpartei zu weiteren Ausfällen ist noch nicht beantwortet. [7]
Wir bitten Sie darum, Maßnahmen zu ergreifen, um den ÖPNV zu einer wahren Alternative aufzubauen. Der ÖPNV trägt einen wesentlichen Teil zum Klima- und Umweltschutz bei und ermöglicht vielen Menschen eine Teilhabe an der Gesellschaft. Viele Bürgerinnen und Bürger sind auf den ÖPNV angewiesen. Die – sich immer weiter häufenden – Ausfälle und Verspätungen bedeuten für uns alle, auf gemeinsame Zeit mit der Familie, auf gemeinnütziges Engagement oder schlichtweg auf die benötigten Ruhezeiten zu verzichten. Als Arbeitnehmer ist es teilweise nicht möglich, immer pünktlich zur Arbeit zu kommen, selbst wenn man tägliche Ausfälle einkalkuliert und entsprechend frühere Züge plant. Arbeitsausfälle bzw. gehäufte Minusstunden bei Arbeitnehmern sind die Folge. Dass Schüler ihren Unterricht verpassen, müssen wir wohl nicht extra erwähnen. Dies ist eine unhaltbare Situation und auch nicht mit den angeblichen Zielen der Landesregierung, etwa der Verdoppelung der Fahrgastzahlen, vereinbar. Wir appellieren an alle Verantwortlichen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten den ÖPNV aus dieser desaströsen Situation zu holen.
Konkret möchten wir folgende Handlungsmöglichkeiten aufzeigen und hoffen auf eine Auseinandersetzung der zuständigen Stellen damit:
Maßnahmen gegen den Mangel an Triebfahrzeugführern
Das Land Baden-Württemberg hat bereits ein Förderprogramm aufgesetzt, um die Ausbildung von Flüchtlingen im Bereich des Regionalverkehrs zu unterstützen. Dieses Programm besitzt (nach Berichten der Pforzheimer Zeitung) 15 Plätze. Wir sehen hier die Möglichkeit, dieses Programm aufzustocken und auch andere Personengruppen in Betracht zu ziehen.
Weiter ist die Ausbildung neuer Triebfahrzeugführer elementarer Bestandteil, um dem Personalmangel auch langfristig zu begegnen. Wir sehen Potenzial in einer besseren Bewerbung der Ausbildung. Das Land und auch die Kommunen können verstärkt für eine Bewerbung, etwa an Schulen, sorgen.
Maßnahmen gegen netzbedingte Ausfälle und Verspätungen
Um kurzfristige Ausfälle abzufedern, sehen wir die Möglichkeit, Budgets für (Bus-)Ersatzverkehr bereitzustellen, insbesondere im Schülerverkehr.
Längerfristig ist eine Abkehr von sternförmigen Netzen sinnvoll. Verzweigte Netze haben den Vorteil, dass Ausweichstrecken vorhanden sind. Wir fordern explizit den Aus- und gegebenenfalls den Neubau von Ausweich- und Tangentialstrecken, um einerseits für Entlastung auf den Hauptstrecken und andererseits für Ausweichmöglichkeiten zu sorgen.
Für unerlässlich halten wir die Erarbeitung von Notfallplänen, die einen Ersatzverkehr bei Ausfällen regeln und sicherstellen. Solche Notfallpläne sollten für alle Strecken existieren und den weiteren Betrieb bei Streckensperrungen oder massiven Zugentfällen regeln, so dass weiterhin möglichst viele Verbindungen bedient werden.
Die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen involvierten Stellen im Bahnverkehr muss gestärkt werden.
Wir hoffen auf Ihre Unterstützung,
Borys Sobieski
Landesvorsitzender, Piratenpartei Baden-Württemberg
Verweise
[1] https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Zwischen-Stuttgart-und-Tuebingen-fielen-2019-fast-2000-Zuege-aus-444598.html
[2] https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP16/Drucksachen/7000/16_7189_D.pdf
[3] https://bnn.de/lokales/pforzheim/go-ahead-keine-durchgehenden-zuege-zwischen-stuttgart-und-mannheim-mehr
[4] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/Baden-Wuerttemberg-Zuprobleme-Ministerium-fordert-Entschaedigung-fuer-Fahrgaeste,entschaedigung-fuer-fahrgaeste-100.html
[5] https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP16/Drucksachen/7000/16_7240_D.pdf
[6] https://www.zvw.de/inhalt.rems-murr-kreis-go-ahead-ein-insider-packt-aus.b78d5f4b-dcb0-462a-91fc-d60f6c2c8053.html
[7] https://fragdenstaat.de/anfrage/anfrage-verspatungen-und-ausfalle-im-opnv/