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Ein Beitrag von Piraten-Stadrat Stefan Urbat zu der Debatte um die Videoüberwachung in Stuttgart.
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Nachdem jahrelang die Auffassung von der Stadtverwaltung bzw. dem Ordnungsamt der Landeshauptstadt vertreten wurde, es gebe keine Kriminalitätsschwerpunkte, die eine Videoüberwachung rechtfertigen würden, galt dies mit dem offensichtlichen Anlass der Ausschreitungen in der Innenstadt in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 2020 nicht mehr – obwohl eine Nacht das statistisch sicher nicht ändern kann. Im Rahmen der „Sicherheitspartnerschaft“ u.a. mit dem CDU-Innenminister Strobl, einem bekannten Hardliner in „Innerer Sicherheit“, kam dann wie immer, wenn der Überwachungsmob seine Chance wittert, sofort die Videoüberwachung großer Teile der Stuttgarter Innenstadt – Charlottenplatz, Schloßplatz, Bereich Klett-Passage/Hauptbahnhof – aufs Tapet; das Land hatte in seinem Bereich (neues Schloß und Schloßgarten) das ohnehin schon beschlossen. Nun stand die Entscheidung im Stuttgarter Gemeinderat an, für gut 1 Mio. Euro dreißig moderne Überwachungskameras anzuschaffen für die eingangs erwähnten Zonen (s. Drucksache 663/2020 unter Ratsdokumente vom 29.7.2020 Gemeinderat, Drucksache, Karte und Protokoll; Achtung: an einer Stelle ist das Protokoll meiner Rede dort nicht nur wie auch insgesamt stark verkürzt, sondern sogar sinnentstellend).
Während die GRÜNEN sich enttäuschenderweise mit einer halbjährigen Überprüfung auf die Fortsetzung dieser Kameraüberwachung (immer Freitag->Samstag und Samstag->Sonntag von 20 bis 6 Uhr geplant) zufriedengaben (die SPD schloß sich nachher dem an) und sich die CDU wie immer erfreut über die Ausdehnung der Überwachungszone zeigte, versuchte ich als Redner der drittgrößten Fraktion Die FrAKTION natürlich vergeblich, die Zustimmung abzuwenden. Hier folgt die Rede von mir, Stadtrat Stefan Urbat der PIRATEN, so genau, wie möglich (ich habe mich nicht exakt an meinen Entwurf gehalten, sie beruht allerdings NICHT auf einem Wortprotokoll, was ich hier aber nicht für erforderlich halte):
„So schnell blättert die Tünche der freiheitlichen Stadtgesellschaft ab: Einstieg in die Videoüberwachung des öffentlichen Raums wegen einem Unglück in einer Nacht“
„Es ist ein typischer Baustein der Überwachung aller: wichtige Bereiche der Innenstadt werden teils zu Kernzeiten Überwacht. Es besteht wie immer die Versuchung der Einführung von automatischer Gesichtserkennung…
Es kommen die typischen vorgeschobenen Behauptungen: Sicherheitsgefühl – begründet keine Videoüberwachung, dazu gibt es auch Gerichtsurteile. Angebliche Senkung der Kriminalität – dies widerspricht einer Studie in 27 deutschen Städten. Eingreifen können nur
Polizisten vor Ort, aber keine Kameras; dann habe ich lieber mehr Polizisten anstelle von Überwachungskameras.
Erst kürzlich wurde die Bestandsdatenauskunft vom BVerfG in weiten Teilen für verfassungswidrig erklärt aufgrund einer Klage mehrerer Piraten – gegen Polizisten laufen aktuell 400 Verfahren wegen übergriffiger Datenabfragen, Polizisten sind eben auch nur Menschen, Übergriffe erfolgen bei diesen meist gegen Frauen, das ist auch bei Videoüberwachung zu erwarten – so wie auch Snowden das aus der NSA-Praxis berichtet hat.
Repressionsfreaks und Überwachungsfetischisten wie Innenminister halten Privatsphäre ohnehin für entbehrlich, wenn nicht für gefährlich… so werden Märchen über Sicherheitsgewinne durch Überwachung gepflegt, v.a. natürlich wie jetzt im (Vor-)Wahlkampf.
In der Realität sind Ignoranz durch Betrunkene, Vermummung – Sie glauben ja wohl nicht, mit Gesichtsmaske, Kapuze und Sonnenbrille ließe sich noch jemand identifizieren? – sowie das Ausweichen in nicht überwachte Bereiche zu erwarten (nicht gesagt aber klar: was wieder den Anreiz zur Ausdehnung der Überwachungszone erhöht).
Das Ergebnis ist stets auch die Einschüchterung Vieler, v.a. wegen „unangepasstem Verhalten“ unangenehm aufzufallen und so verdächtig zu werden.
Der Europäische Datenschutzausschuss hat klar ausgedrückt, dass Videoüberwachung auf das absolute Minimum zu beschränken ist (nicht gesagt, Bsp. Hochsicherheitszonen an einzelnen Orten wie KRITIS-Strukturen) und öffentliche Stellen sie nicht routinemäßig in ihrem Aufgabenbereich machen dürfen.
Einmal angeschafft, wollen natürlich Überwacher ihre Überwachungsausrüstung soviel wie möglich nutzen. „Kameras sind billiger als Polizisten“ steht tatsächlich in dieser Vorlage; das erinnert mich an einen Ausspruch von Franz-Josef Strauß im Bundestagswahlkampf: ‚Atombomben sind billiger als Soldaten.‘ – Auf diesem Niveau möchte ich nicht diskutieren.
Liebe GRÜNE: fragt mal Konstantin von Notz zu diesem Thema, der ist bestimmt nicht dafür. Die FDP lobe ich, dass sie hier zu ihren Prinzipien steht.“
Anmerkung zum letzten Absatz: Konstantin von Notz ist ein bekannter Netzpolitiker der GRÜNEN, den ich persönlich kenne, und dementsprechend ein Kritiker von Überwachung.
Highlight der anderen Reden nach mir war der Beitrag von Dr. Oechsner, FDP, der ausdrücklich feststellte, dass nach der „Rede von Kollege Urbat“ er jetzt ganz sicher ist, dass sie überzeugt und geschlossen gegen die Videoüberwachung stimmen werden, zumal er meine Einschätzung nochmals ausdrücklich teilte, dass gesteigertes Sicherheitsgefühl vieler Einwohner noch lange keine solche Maßnahme begründet und so solle man lieber das Geld in (die anschließend immerhin einstimmig beschlossene) mobile Jugendarbeit in der Innenstadt geben oder dem Land für die Einstellung von mehr Polizisten. – Liberale, wie ich sie mag.
Der Tiefpunkt der Debatte kam von den Freien Wählern: wie auch im Protokoll vermerkt, wagte der Redner dieser Fraktion es tatsächlich, hier öffentlich mit dem Spruch zu kommen, „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten“. – Bei soviel Ignoranz gegenüber grundlegenden Freiheitsrechten fällt einem freiheitsliebenden Bürger und somit auch uns Piraten nichts mehr ein, da ist einfach alles schiefgegangen…
Noch-OB Fritz Kuhn/GRÜNE relativierte meine Rede anschließend noch, dies sei nicht die Schublade Überwachungsstaat und äußerte Unverständnis (er sollte doch die FDP auch aus dem Bundestag lange genug kennen?) über das Verhalten der FDP. Natürlich bewirkt (gerade auch) eine gelungene Rede in solchen politischen Gremien keinen Meinungsumschwung, sie führt vielmehr (s.o.) dazu, dass die beiden Grundüberzeugungen gegen und für Überwachung nur deutlicher hervortreten, da ist eine einzelne Stimmenthaltung (s.u.) wie erlebt schon bemerkenswert.
Die Abstimmung fiel ziemlich genau wie erwartet aus, d.h. es gab eine 2/3-Mehrheit für die Installation der Videokameras auf städtischem Grund.
Die 17 Gegenstimmen kamen von diesen Fraktionen bzw. Stadträten/Gruppen:
8 (alle) von unserer Die FrAKTION (LINKE, SÖS, PIRATEN, Tierschutzpartei) mit mir, 5 (alle) von der FDP, 3 (von 4) von PULS und 1 (von 7) von der SPD. Somit glichen sich die jeweils 1 abweichende Stimme von PULS und SPD aus; während ein Beamter (Junge Liste) von PULS wohl meinte, er dürfe seinen Videoüberwachungs-freudigen Beamtenkollegen von der Polizei hier nicht abstimmungstechnisch entgegentreten, fand sich ganz typisch in der SPD eine abweichende Stimme hierzu, die aber die allgemeine Überwachungsfreudigkeit der SPD nicht entscheidend mildern kann.
Es gab noch eine Enthaltung (k.A. woher, GRÜNE?) und eine GRÜNE verließ vor der Abstimmung den Sitzungssaal aus mir unbekanntem Grund.
Es bleibt jetzt wohl nur, auf GRÜNE und evtl. SPD zuzugehen, um zu erreichen, dass sie der Verlängerung dieser Maßnahme in einem halben Jahr nicht zustimmen.