Denkt doch an die Kinder! – oder wie die Massenüberwachung (wieder einmal) eingeführt werden soll…

Am 11. Mai 2022 stellte die EU Kommission ihren Entwurf für ein Gesetz vor, welches getrost als das, was es schlussendlich ist, bezeichnet werden kann: Der Einstieg in eine Generalüberwachung unserer gesamten digitalen Kommunikation.

Hintergründe, worum geht es?

Bereits 2009 erlangte die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen den Spitznamen “Zensursula”. Damals stellte Sie mit der Begründung, Darstellungen des sexuellen Missbrauchs von Kindern bekämpfen zu wollen, weitreichende Pläne zur Internetzensur und Netzsperren vor. Diese trafen auf einen breiten Widerstand innerhalb der Bevölkerung sowie Fachexperten und scheiterte letztlich auch aufgrund der Aufklärungsarbeit von uns Piraten.

Im Jahr 2019 warnten wir Piraten mit Demonstrationen gegen Artikel 13 (17) vor der Errichtung einer Zensurinfrastruktur. Insbesondere der Einsatz von automatisierten Uploadfiltern, Overblocking und intransparenten sowie fehleranfälligen Algorithmen stellen in diesem Zusammenhang in Form einer “Zensur-as-a-Service” Infrastruktur, welche in den Händen weniger liegt, aus unserer Sicht eine Gefahr für unsere Demokratie dar.

Inzwischen ist Frau von der Leyen Präsidentin der Europäischen Kommission. Und wieder haben wir es mit der sogenannten Chatkontrolle mit einem Gesetzentwurf zu tun, welcher die Möglichkeit für eine weitreichende Überwachung der (europäischen) Bürger schaffen soll. Seitens der Europäischen Kommission wird dies vornehmlich mit dem Schutz der Kinder begründet, etwas, dem man spontan zustimmen möchte. Dass aber dieses Argument instrumentalisiert wird, um eine Massenüberwachung zu ermöglichen, ist einfach nur schändlich.

Auf dem Wunschzettel steht aber nicht nur die automatisierte Erkennung von CSAM*-Material, sondern auch die automatische Erkennung von Grooming, eine verpflichtenden Altersverifikation (und damit das Ende der Anonymität im Netz) und die Schaffung einer neuen zentralen Ermittlungsbehörde.

Irgendetwas muss doch getan werden!

Selbst der Kinderschutzbund lehnt die Chatkontrolle ab: “Verschlüsselte Kommunikation spielt bei der Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen kaum eine Rolle. Anlasslose Scans verschlüsselter Kommunikation sind unverhältnismäßig und nicht zielführend.”

Die Chatkontrolle ist kein geeignetes Mittel, um Darstellungen des sexuellen Missbrauchs von Kindern aufzuspüren und wirkungsvoll zu bekämpfen. Die bereits zur Verfügung stehenden Ermittlungsmöglichkeiten werden aktuell nicht einmal ausgeschöpft. Zudem findet nach Meinung von Experten die Verbreitung von Darstellungen des sexuellen Missbrauchs von Kindern nicht über verschlüsselte Nachrichten statt, sondern in geschlossenen, selbst betriebenen Foren oder andere Plattformen.

Stattdessen müssen Ermittlungsbehörden personell und fachlich besser ausgestattet werden. Die sozialen und psychologischen (und vor allem anonymen) Hilfsangebote für Kinder und Jugendliche müssen ausgeweitet werden. Und vergessen wir nicht Menschen mit pädophilen Neigungen, die dringend auf geeignete Ansprechpartner und Therapiemöglichkeiten angewiesen sind, damit aus einer Neigung keine Straftat wird.

Aber ich habe doch nichts zu verbergen!

Wir dürfen die geplante Chatkontrolle nicht auf die leichte Schulter nehmen. Eine völlige Durchleuchtung unserer privaten Nachrichten ist ein inakzeptabler Eingriff in unsere Grundrechte mit weitreichenden Folgen. Unsere Privatsphäre muss vor derartigen Zugriffen geschützt werden.

Die zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson weigerte sich scheinbar sogar, Datenschutzexperten der EDRi anzuhören. Stattdessen wurden aber Konzerne wie Facebook (Meta) angesprochen und gehört, also private Unternehmen, deren Geschäftsmodell darauf ausgerichtet ist, möglichst weitreichende Befugnisse für weitere Datenzugriffe zu erhalten.

Der Europaabgeordnete, Bürgerrechtler und digitale Freiheitskämpfer Dr. Patrick Breyer hat am 9. Mai eine Klage gegen die Chatkontrolle eingereicht. – Link

Auch Amnesty meldet sich regelmäßig zum Thema Überwachung zu Wort: “Das Recht auf Privatsphäre ist ein wichtiges Menschenrecht, für dessen Schutz sich Amnesty International einsetzt. Es ist in Artikel 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert.” – Link

Nicht nur Datenschützer und Journalisten, sondern auch Therapeuten, Betriebsräte und viele andere sind darauf angewiesen, dass die Vertraulichkeit des Wortes auch über weitere Distanzen so gut es geht geschützt ist. Mit der Chatkontrolle wird genau dies generell verhindert. Kein Satz bliebe ungescannt, kein Wort nicht analysiert. Egal ob es sich um belangloses wie ein Kochrezept, etwas persönliches wie eine Liebschaft oder etwas belastendes wie eine medizinische Diagnose handelt. Algorithmen sollen mit der Begründung, auf diese Weise automatisiert “Grooming” zu erkennen, auf ALLES Zugriff erhalten. Auch wenn aus technischer Sicht höchstens eine gewisse Mustererkennung möglich wäre – der Gedanke, dass jegliche digitale Kommunikation auf dritten Servern erfasst, durch Algorithmen automatisiert analysiert und von fremden Personen beurteilt und verarbeitet werden, sollte jedem klar machen, dass wir diesen Eingriff auf unsere Grundrechte niemals zulassen dürfen, unabhängig von der Begründung.

Wenn sichere E2E-Verschlüsselung** unbrauchbar gemacht wird, bedroht dies die Sicherheit durch Verschlüsselung im praktischen Einsatz und macht diese unmöglich.

Wird die Verschlüsselung untergraben, müssen wir stets davon ausgehen, dass Geräte kompromittiert sind und Kommunikation auch von Kriminellen und Angreifern mitgelesen wird. Das in diesem Zusammenhang nicht über die daraus resultierende Gefahr der Industriespionage gesprochen wird, erstaunt uns Piraten. Sind die Vorfälle um die Spionagesoftware in Blackberries zwischen 2007 und 2009 so schnell vergessen worden?

Aktuell laufen die Anhörungen im Untersuchungsausschuss des Europäischen Parlamentes zum Einsatz von Pegasus und ähnlicher Überwachungs- und Spähsoftware. Auch dort ist klar: Spyware ist eine umfassende Dienstleistung und es werden stets mehr Daten abgeschöpft, als zugegeben wird – weil es technisch möglich ist.

Keine Regierung sollte all unsere Nachrichten lesen (und automatisiert analysieren, speichern, verarbeiten) dürfen.

“Erlaube deiner liebsten Regierung nur das, was du auch der am schlimmsten denkbaren Regierung erlauben würdest!” – Anja Hirschel, Stadträtin in Ulm und Sprecherin der AG Digitaler Wandel der Piratenpartei

Was kann ich tun?

Kurz gesagt, geht protestieren… Schafft Aufmerksamkeit für das Thema! Die Meinungsbildung zu diesem Thema findet jetzt statt und hat Auswirkungen auf Umfragen, welche die Europaabgeordneten bei ihrer Entscheidung berücksichtigen.

Auf der Informationsseite von unserem Europaabgeordneten Dr. Patrick Breyer findet ihr fünf Dinge, die ihr tun könnt!

 

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Hinweis: Wir verwenden nicht den Begriff “Kinderpornographie” in unserem Artikel. Auch wenn er weit gebräuchlich ist, so halten wir ihn für nicht geeignet, den Charakter der Straftat geeignet darzustellen. Zudem möchten wir die Begriffe “Kinder” und “Pornographie” klar voneinander trennen. Daher vermeiden wir den Begriff wenn irgend möglich und nutzen stattdessen die Abkürzung CSAM (child sexual abuse material) oder den daran angelehnten Begriff der “Darstellungen des sexuellen Missbrauchs von Kindern”.

** Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, die zusätzlich zu einer Transportverschlüsselung dazu eingesetzt wird, um Daten nur den Kommunikationspartnern zugänglich zu machen, also vor unbefugten Zugriffen zu schützen